Ja, das Thema ist schon ein paar Wochen alt, ja, es wird gerade wieder ruhiger. Nur in meinem Kopf halt nicht.
Jedes Mal, wenn ich einen Artikel darüber lese, jedes Mal wenn es irgendwo wieder hoch kommt, jedes Mal, wenn ich Kommentare lese (ganz schlimm auf Facebook) werde ich wütend. Wütend auf den immer wieder aufkommenden Frauenhass, auf die immer wieder gleichen, sehr schwachen, Argumente. Auf die Gesellschaft, auf die ganze beschissene Situation (Ja, sorry, der Beitrag wird voll sein mit fluchender Sprache).
Natürlich ist das ein schwieriges Thema und ey, ich kann Rammstein-Fans ein wenig verstehen, die sich jetzt halt fragen wie sie mit der Situation umgehen sollen. Ich kenne diese Fragen. Ich kenne dieses Gefühl von „Shit, ich habe hier vielleicht jemanden jahrelang angehimmelt, der ein Arschloch ist“. All das kann ich nachvollziehen.
Was ich nicht nachvollziehen kann, ist der sehr offensichtliche Frauenhass, der sich hier wieder zeigt. In jedem Argument tröpfelt und schwemmt er sogar durch. Und das schlimme – viele merken es noch nicht mal. Und es ist erschreckend wie viele da selbst mitmachen, sogar dann wenn sie eine minute vorher noch anders geredet haben.
Ich nehme einige der Schwurbel -Argumente einmal auseinander, die ich so häufig gesehen bzw gehört habe. Vielleicht hilft das ( zumindest mir, damit ich meine Wut darüber kanalisieren kann).
„Noch ist nix bewiesen, es gilt die Unschuldsvermutung“
Die Unschuldsvermutung gilt auf juristischer, nicht auf moralischer Ebene. Ja, Justiz ist notwendig (was einige sonst machen würden merkt man übrigens wenn es darum geht ab wann jemand eine sexuelle Beziehung mit Kindern / Jugendlichen haben kann… btw). Aber es gibt halt auch die moralischen Grundsätze, die jede*r für sich selbst ein bisschen ausloten kann. Natürlich sind auch die gesellschaftlich geprägt.
Die Unschuldsvermutung muss also nicht zu tragen kommen, wenn Leute sich dazu entscheiden, kein Rammstein mehr zu hören. Unschuldsvermutung gilt auch nicht für Journalismus. Also ja, die Medien dürfen über die Vorfälle berichten, auch wenn kein Urteil gefällt wurde. Sie ist in der Verpflichtung, seine Berichte aber wahrheitsgemäß zu gestalten. Und das tun sie. (Fast) jede Aussage von vermutlichen Opfern wurde eidesstattlich versichert.
Das ist der Grund, warum es „mutmaßlich“ heißt – weil noch nichts feststeht.
Dazu kommt, dass die Unschuldsvermutung (wenn wir diese denn unbedingt auch außerhalb der Justiz nutzen möchten) in beide Richtungen gilt. Das heißt, wenn man sagt, dass man Lindemann nicht verurteilen soll, dann darf man nicht im gleichen Atemzug sagen, dass die mutmaßlichen Opfer lügen würden.
Mit der Unschuldsvermutung wird auch oft gesagt “Es gibt noch kein Urteil” oder auch „Man muss erstmal abwarten“
Genau wie auch bei der Unschuldsvermutung muss man hier halt zwischen Justiz und Moral unterscheiden. Nicht immer, wenn es keine Anklage, kein Strafverfahren oder ein Urteil gibt sagt es etwas über die Schuld oder Unschuld von jemandem aus. Als Beispiel – bis 1997 war eine Vergewaltigung in der Ehe nach dem Gesetzt her nicht verboten. Heißt, juristisch wurden Täter*innen nicht belangt. Ich darf als Einzelperson das aber trotzdem scheiße finden und auch entscheiden mich von solchen Menschen fern zu halten.
Auch fehlen oft, gerade bei solchen Fällen, die Beweise und Opfer möchten sich nicht dem Stress aussetzen.
Und ja, von mir aus. Wartet ab. Aber dann sollte man sich halt vielleicht gar nicht äußern. Also wirklich so 0,0 %. Aber es wird auf den Seiten der Rammstein-Fans nicht wirklich abgewartet. Es wird weiter zu den Konzerten gegangen, als ob nichts wäre, weiter Shirts gekauft und getragen, Musik weiter gespielt. Vielleicht bin ich das, aber lieber verzichte ich auf ein Konzert, bis eben bewiesen wurde, dass es wirklich nicht stimmt, als nachher einen Täter weiter zu unterstützen, weil ich eben „abwarten“ wollte.
Aber vielen ist das einfach egal. Für sie steht fest, Lindemann war es nicht und „Die wollen ihn jetzt nur canceln“.
Ah, ja, die berühmt- berüchtigte Cancel Culture. Ich frag mich immer noch, wo die genau greift. Bei Rammstein offensichtlich nicht. Ausverkaufte Konzerte, 6 (!) Alben in den Top 100 Albumcharts. Sechs verdammte Alben.
Das sieht für mich nicht nach Cancel Culture aus, sondern eher danach, dass Leute Alben kaufen, um die Band zu unterstützen in diesen schweren, schweren Zeiten (Sarkasmus, Vorsicht). Ich hab jetzt auch schon öfter Leute (hauptsächlich weiße Cis Dudes) mit Rammstein-Shirts gesehen, auch schon bei denen, die nicht so aussahen, als ob sie sonst so rumlaufen würden und die Shirts sahen auch neu aus (es ist eine Mutmaßung meinerseits).
Wer jetzt tatsächlich in dieser Situation ein Rammstein-Shirt trägt, setzt halt ein eindeutiges Zeichen. Es ist ein Statement, dass sexuelle Gewalt und Vergewaltigung doch ok ist, meinem Star soll nur nix passieren.
Übrigens – auch Luke Mockeridge konnte damals die Cancel Culture nicht viel anhaben. Kurze Zeit später war er wieder im TV und wieder auf Tour. Der Einzige bei dem das irgendwie griff war wohl Faisal Kabusi. Der wurde für seinen sehr opferverachtenen Witz, völlig zu recht, abgestraft. Ich hake hier einmal ein und vermute, dass Faisal nicht so konsequent „gecancelt“ worden wäre, wenn er weiß, deutsch wäre? Just saying. (Was btw nicht heißt, dass er es nicht verdient hat, aber es wurde hier sehr eindeutig mit zweierlei Maß gemessen).
Ähnlich wie bei dem Argument „Sein Image / Karriere ist zerstört, wie bei Kachelmann“
Wie gesagt – ist es ja ganz offensichtlich nicht. Lindemann verdient weiterhin sehr viel Geld, wahrscheinlich gerade noch ein bisschen mehr. (6 verfickte Alben).
Gerade den Fall Kachelmann da immer wieder heranzuziehen finde ich schon fast witzig (auch wenn es das nicht ist).
- Die Kachelmann Sache ist jetzt halt 12/13 Jahre her. (Anklage Mai 2010, Freispruch Mai 2011). In über 10 Jahren gibt es also genau ein Beispiel?
- Ja, Kachelmann wurde freigesprochen, aber weil es nicht bewiesen werden konnte. Seine komplette Unschuld konnte aber genauso wenig bewiesen werden. Hier griff also die Unschuldsvermutung. Ja, Kachelmann war seitdem weniger im Fernsehen vertreten. Aber er ist selbst zurückgetreten (anders als Lindemann).
- Ich finde die beiden Fälle kaum vergleichbar. Bei Kachelmann ging es um zwei Menschen. Wäre Kachelmann nicht so bekannt gewesen, wäre in den Medien nicht darüber berichtet worden. Es ging um einen Vorfall, nicht um mehrere, beide im gleichen Alter, ohne weitere Zeugen, ohne weitere (vermutliche) Opfer. Usw. Wenn ein Vergleich bei Lindemann ziehen würde, dann Epstein oder Weinstein, denn da waren ähnliche Strukturen. Sehr junge, naive Mädchen, mit einem regelrechten Castingsystem, eine Frau, die hat. Aber lieber bloß nicht, weil wenn man sich das anschauen würde, müsste man vielleicht doch andere Rückschlüsse ziehen.
- Selbst Kachelmann will nicht, dass er immer als Paradebeispiel genutzt wird. Er will nicht mit Lindemann in einen Topf geworfen werden. Fragt euch doch mal warum. Vielleicht weil es ein anderer Fall war? Vielleicht weil es halt schon über 10 Jahr eher ist? Vielleicht weil Kachelmann nie vorgeworfen wurde, systematisch Frauen betäubt und vergewaltigt zu haben?
Also der Fall Kachelmann ist ein gutes Beispiel, wie die Unschuldsvermutung funktioniert. Er wurde freigesprochen, weil weder das eine noch das andere bewiesen werden konnte. Es ist aber kein Beispiel für „Das denken die sich doch alle nur aus“, denn “die wollen jetzt nur Fame / Geld”
Es ist schon erstaunlich, wie oft das mutmaßlichen Opfern von sexueller Gewalt vorgeworfen wird, besonders Frauen. (Sidenote – männlichen Opfern wird das zwar seltener unterstellt, aber wenn die Täterin eine Frau war, dann soll er „sich mal nicht so anstellen und lieber darüber freuen“). Während man viele der vorigen Aussagen noch als verzweifelten Versuch werten kann seine Lieblingsband zu schützen (wobei das bei den vielen “Ich bin kein Rammstein Fan, aber” Aussagen halt nicht der Fall sein kann…. aber who cares, ne?), kann man das hier nicht mehr sagen. Es ist Sexismus und Misogynie. Nichts weiter. Denn nichts anderes steckt dahinter, wenn man Frauen das direkt vorwirft, sobald ein solcher Vorwurf im Raum steht. Dabei sagt die Kriminalstatistik was ganz anderes. Es sind 3 % Falschanzeigen… 3 %!!!. Das rechtfertigt irgendwie nicht diese Behauptung, die halt immer wieder gemacht wird.
Aber dass noch keine Frau, also wirklich keine dadurch berühmt wurde, dass sie einen sexuellen Missbrauch öffentlich gemacht hat, das wird dabei irgendwie ignoriert. Im Gegenteil. Eben wegen solcher Sprüche trauen sich viele Opfer gar nicht an die Öffentlichkeit zu gehen oder gar Anzeige zu erstatten.
Sie bekommen keinen Ruhm und selbst wenn sie sich mit den mutmaßlichen Tätern auf eine Zahlung einigen, wie viel gleicht das wirklich aus?
Gleicht das wirklich einen psychischen Schaden, den eine (mutmaßliche) Vergewaltigung verursacht, aus? Gleicht das wirklich die Hetze bis hin zu Morddrohungen aus? Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber ich verzichte lieber auf Geld, ehe Menschen öffentlich ein Kopfgeld auf mich ausstellen.
“Aber sie hat das Geld ja angenommen, war wohl doch nicht so schlimm.” Ist das so? Oder ist es nicht eher so, dass Opfer durch Unterlassungsklagen und etlichen andere Maßnahmen mürbe gemacht werden? Dass sie sich das alles nicht mehr leisten können, weil sie nicht das Geld dafür haben? In solchen Fällen wie jetzt sitzen die Opfer oft alleine, ohne notwendigen juristischen, wie psychischen Beistand einem fast schon Apparat an Macht, Einfluss und Geld gegenüber. Wenn man sich keinen Anwalt leisten kann, wenn man zu hören bekommt, dass niemand einem glaubt, man Drohungen erhält, man ständig ausgefragt wird, wann man sich wie verhalten hat und alles an einen in Frage gestellt wird, dann ja, kann ich verstehen, dass man irgendwann sich halt anders einigt.
Und könnte man so eine Zahlung seitens der mutmaßlichen Täter nicht auch als Schuldeingeständnis ansehen? Könnte man, wird aber nicht gemacht. Denn klar, Frauen sind alles hinterhältige Intrigantinnen, die nur lügen und Männer schlecht machen wollen. Und überhaupt “Muss man damit rechnen, jeder weiß doch was auf solchen Partys abgeht” oder auch “Sind die dumm/naiv”
Ja, also was denn jetzt? Sind das alles falsche Behauptungen oder muss ich als Frau damit rechnen, immer angemacht zu werden, verfolgt zu werden, belästigt, mir Drogen untergejubelt werden und ich vergewaltigt werde? Ist das wirklich der Hot Take, den einige machen wollen? Ich finde das so absurd. Denn auf der anderen Seite heißt es, sobald Frauen sagen, dass sie genau davor Angst haben, “Not all men“ und “Ihr seid paranoid” oder auch “Ich bin nicht so, ich will nicht unter Generalverdacht gestellt werden”. Spätestens ab diesem Moment merkt man – man kann als Frau nicht gewinnen. Es wird immer weiter eine Begründung gesucht, warum der Mann in solchen Fällen nicht Schuld ist. Sei es, die Frauen sind hinterhältig und Lügnerinnen, sei es sie sind naiv und dumm (nochmal – was denn nun?) oder sei es solche dummen Aussagen wie, dass Männer da nichts für können, sie sind zu animalisch und triebgesteuert. Das ist reine Biologie. Kann er ja nichts für.
Immer wieder sind Frauen dafür verantwortlich, aber Männer nie. Ist ganz schön bequem so, für Männer, oder?
Und zu dem Punkt – naiv. Ja! Genau das ist es, was bei solchen Strukturen ausgenutzt wird. Genau aus diesem Grund sucht man sich sehr junge Mädchen. Die sind naiv, die wollen das auch nicht glauben, wenn man sie warnt. Und warum auch nicht? Als ob wir nicht alle mit 19 naiv waren. Ich bin es auch mit über 30 sogar in manchen Fällen immer noch. Warum wird das verurteilt, aber nicht die Leute, die genau diese Naivität ausnutzen?
<<Exkurs Hart aber fair>>
Ich möchte hier einmal kurz dazwischen werfen, bevor es weitergeht – ich hasse Männer nicht, auch wenn sich das wahrscheinlich so liest. Ich habe einige großartige männliche Freunde, es geht mir hier um Strukturen. Strukturen, die es halt nicht zulassen wollen, dass an dem Thron von mächtigen, einflussreichen Männern geruckelt wird. Denn darum geht es, zumindest in solch großen Fällen oft. Oder wie Thomas Stein in der Hart aber fair Sendung so schön sagte “man müsse das mal in Relation zu den Tausenden sehen, die eine schöne Zeit haben”. Was Stein eigentlich sagen wollte, ist “man muss das mit den tausenden Euros in Relation setzen, die man verdienen kann”.
Dass das wirklich jemand ernsthaft, ohne sofortigen Rausschmiss in einer Sendung sagen kann, ist der Gipfel. Ja, die Aussage, Lindemann könne zwischendurch bei der Show niemanden mehr “beglücken” (die Formulierung allein löst bei mir Ekel aus), war schon massiv daneben, aber diese Relation von Opfern ist nur widerwärtig. Und das von den weiteren Gäst*innen und auch vom Moderator kein Einspruch kam zeigt halt, wie wenig wir in unserer Gesellschaft in diesem Punkt erreicht haben. Denn natürlich denken nicht alle so wie Herr Stein. Aber wenn man jemanden so ungestraft reden lässt, aber den Personen, die sich für die mutmaßlichen Opfer aussprechen, ständig ins Wort fällt, dann wird ein genaues Bild vermittelt, was man sagen kann und was nicht.
So viel also zu der Cancel Culture und der angeblichen Hetzjagd, die die Medien angeblich gegen Lindemann führen. Wäre es so, dann hätte Stein gar nicht da sein dürfen. Dann wären da vier Gäst*innen gewesen, die nur auf Lindemann rhetorisch eingedroschen hätten, aber nicht ein Stein mit seinem Geschwurbel, nicht ein Autor, der dazu aufruft, dass wir Männer wieder Männer sein lassen müssen und nicht eine Politikerin, die Catcalling nur von einem “ganz bestimmten Klientel” kennt.
Ich habe mir die ganze Sendung angesehen, um mir ein eigenes Bild zu machen, statt dem, was auf Instagram geteilt wurde, aber es fiel mir unendlich schwer, es bis zum Ende zu sehen.
Und das lag halt an dem immer wieder auftauchenden Frauenhass, der einem so ungehindert und zahlreich entgegenkommt. Nicht nur bei Hart aber fair, sondern fast überall.